Johann Wolfgang Goethe und das Märchenerzählen
Lust zu fabulieren war bekanntlich die Kurzformel auf die Goethe sein Dichtertalent brachte. Im Erzählen sah er das Zentrum seines Schaffens. Er zeigt sich als Erzähler in sämtlichen Dichtungsgattungen, in seiner Lyrik und Dramen. Das erzählerische Element hat immer einen großen Anteil. Manche empfinden es auch als zu ausschweifend."
Die Frage wie entwickelt sich ein solches Dichtertalent führt in die Kinderheit Goethes. Hier zeigt sich woraus seine geistige Nahrung bestand und der Anfang seiner sprudelnden, poetischen Quellen lag.
Viel erfahren wir durch Bettina Brentano, die sich von Goethes Mutter aus Kindheit und Jugend des Dichters berichten ließ:
Wie Goethes Mutter ihre Märchen erzähle, so erzähle kein Mensch. Die Mutter pflegte in Fortsetzungen zu erzählen. Wie Scheherazade ließ auch sie die Handlung mitten in einem spannenden Moment abbrechen und erst den nächsten Tag die Fortsetzung bringen. Das Ergebnis dieser Erzähltechnik war nicht nur die Erhöhung der Spannung, sondern vor allem lebendiges Mitdichten des Kindes, das den Faden der Handlung selbständig weiterspann. Die Mutter glaubte auch sich einen Anteil an seiner Darstellungsgabe zuschreiben zu dürfen, denn einmal, sagte sie, konnte sie nicht ermüden zu erzählen, so wie er nicht ermüdete zuzuhören..."da war kein Mensch so eifrig auf die Stunde des Erzählens mit den Kindern wie ich, ja, ich war im höchsten Grad begierig die kleinen eingebildeten Erzählungen weiter zu führen, und eine Einladung, die mich um einen solchen Abend brachte, war mir immer verdrießlich. Da saß ich, und da verschlang er mich bald mit seinen großen schwarzen Augen, und wenn das Schicksal irgend eines Lieblings nicht recht nach seinem Sinn ging, da sah ich wie die Zornader an der Stirn schwoll und wie er die Tränen verbiß. Manchmal griff er ein und sagte noch eh ich meine Wendung genommen hatte nicht wahr, Mutter, die Prinzessin heiratet nicht den verdammten Schneider, wenn er auch den Riesen totschlägt; wenn ich nun Halt machte und die Katastrophe auf den nächsten Abend verschob, so konnte ich sicher sein, daß er bis dahin alles zurecht gerückt hatte, und so war mir denn meine Einbildungskraft, wo sie nicht mehr zureichte, häufig durch die seine ersetzt; wenn ich denn am nächsten Abend die Schicksalsfäden nach seiner Angabe weiter lenkte und sagte: "Du hast es geraten so ist es gekommen, da war er Feuer und Flamme, und man konnte sein Herzchen unter der Halskrause schlagen sehen. Der Großmutter, die im Hinterhause wohnte und deren Liebling er war, vertraute er nun allemal seine Ansichten, wie es mit der Erzählung wohl noch werde, und von dieser erfuhr ich wie ich seinen Wünschen gemäß weiter im Text kommen solle, und so war ein geheimes diplomatisches Treiben zwischen uns, das keiner an den anderen verriet; so hatte ich die Satisfaktion zum Genuß und Erstaunen der Zuhörenden, meine Märchen vorzutragen, und der Wolfgang, ohne je sich als den Urheber aller merkwürdigen Ereignisse zu bekennen, sah mit glühenden Augen der Erfüllung seiner kühn angelegten Pläne entgegen, und begrüßte das Ausmalen derselben mit enthusiastischem Beifall. Diese schönen Abende, durch die sich der Ruhm meiner Erzählkunst bald verbreitete, so daß endlich alt und jung daran teilnahm, sind mir eine sehr erquickliche Erinnerung.
Das Beispiel in das beschwörende Eingreifen ins Märchen vom tapferen Schneiderlein ist für das Innenleben des kleinen Wolfgang höchst aufschlußreich; das tapfere Schneiderlein genügte ihm offenbar nicht als Held, mit dem er sich identifizieren konnte. Die Prinzessin war ihm zu schade für einen so kleinen Wicht. Ein ihr würdigerer Held mußte erfunden werden, einer mit dem Wolfgang sich gleichsetzten, in dem er sich wiedererkennen mochte. Darum gestaltet er dies Märchen nach eigenen Bedürfnissen. So erfüllen die Märchen auch seine Persönlichkeitsentwicklung und hatten eine therapeutische Funktion, nämlich Lösungen zu finden um eigene Schwierigkeiten zu überwinden.
Auf ähnliche Weise enthalten viele Dramen Goethes biographisches, und sind derart, dass sie persönliche Schwierigkeiten und Nöte des Dichters aufgreifen die im Verlauf der erzählten Geschichte wie in einem therapeutischer Prozess Ausdruck und Bewusstheit finden. Die Gedankenwelt rundherum breitet sich aus, die Gefühlswelt wird beleuchtet. Die literarische Auseinandersetzung ermöglicht eine innere Heilung, auch wenn der Held der Geschichte, wie z.B in "Werthers Leiden" zum Selbstmord greift so findet der Dichter im Schreiben selbst eine Lösung und Überwindung seines eigenen Kummers.
Johann Wolfgang Goethe erzählte gerne zur Unterhaltung MärchenBettina Brentano:
Der Scheherezadestil des Märchenerzählens in Fortsetzungen, wie die Mutter ihn pflegte, prägte sich Goethe so tief ein, daß es sich aufs engste verknüpfte mit seinen Vorstellungen von der Gattung des Märchens, wie von wirkungsvollem Erzählen überhaupt. Die Mutter war es auch, die ihn durch ihr Beispiel lehrte, bekannte Märchen aufzufrischen, andere zu erfinden und zu erzählen, ja im Erzählen zu erfinden. So übernahm er ihre unerschöpfliche Fabulierfreude gepaart mit der Fähigkeit, alles was die Einbildungskraft fassen kann, heiter und kräftig darstellen kann.Goethe:
"ich erzählte sehr leicht und bequem alle Märchen, Novellen, Gespenster- und Wundergeschichten, und wußte manche Vorfälle des Lebens aus dem Stegreif in einer solchen Form darzustellen."Im "Rattenfänger" hat Goethe sich selber als Märchenerzähler porträtiert.
Dann ist der gutgelaunte Sänger Mitunter auch ein Kinderfänger Der selbst die wildesten bezwingt Wenn er die goldnen Märchen singt. Und wären Knaben noch so trutzig. Und wären Mädchen noch so stutzig, In meinem Sinne greif ich ein, Sie müssen alle hinterdrein. |
Die Selbstbiographie Goethes lässt durchblicken, daß Kinder eigentlich Goethes Lieblingspublikum waren, wenn er Märchen erzählte. Sie plagten ihn nicht, wie die Erwachsenen den Werther Dichter, mit Fragen nach dem Wahrheitsgehalt des Erzählten. Ihn freute es, den um ihn versammelten Kindern recht seltsame Märchen zu erzählen, welche aus lauter zusammengetragenen Gegenständen zusammengesonnen waren;
Goethe:"wobei ich den größten Vorteil hatte, daß kein Glied meines Hörkreises mich etwa zudringlich gefragt hätte, was denn wohl daran für Wahrheit oder Dichtung zu halten sein möchte".Auszüge aus dem Buch: Goethe Märchen, herausgegeben und erläutert von Katherina Mommsen; im Inselverlag